Machen Tomaten autonom?

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Tomaten schreiben Geschichte. Noch heute ist die Frage ungeklärt, wie weit die Tomate flog. Das feministische Experiment zur Ballistik der roten Beere im Jahre 1968 ging damals durch die Weltpresse. Wegen Missachtung der Belange der Frauen auf einer Versammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) warf die Studentin Sigrid Damm-Rüger wütend eine Tomate Richtung Rednerpult. Sie wollte dem SDS-Bundesvorsitzenden Helmut Schauer die Röte nicht nur mit Worten ins Gesicht treiben. Dass dieses Wurfobjekt ausgerechnet einen schwulen und in keiner Weise frauenfeindlichen Mitstreiter traf, hatte die erzürnte Zuhörerin nicht geplant. Trotz Verfehlung des Ziels stellt der Wurf dieser weiche rote Frucht einen wichtigen Meilenstein in der Frauenbewegung dar.

Nicht nur im echten Leben, sondern auch im Film kommt die Tomate zu Ruhm und Ehre. In dem amerikanischen Film „Fried Green Tomatoes“ nach dem Buch von Fannie Flagg führt der Erfolg eines geheimen Rezepts gebratener grüner Tomaten in ihrem gemeinsam eröffneten Café zwei Frauen in die Unabhängigkeit und Emanzipation.

Dass die roten Früchte nicht nur zum Signet des Feminismus wurden, sondern seit den 20er Jahren als Symbol für Treulosigkeit herhalten müssen, hat – schenkt man dem Herderschen „Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten“ Glauben – folgende Bewandtnis: Angeblich ein Treuebruch gepaart mit der damals recht erfolglosen Kultivierung der Tomatenpflanze in unseren Breiten brockten dem Tomaten essenden Italiener die Bezeichnung „Treulose Tomate“ ein. Im ersten Weltkrieg nahmen die Italiener zunächst eine neutrale Haltung ein. Die Deutschen glaubten jedoch, Italien stünde auf ihrer Seite. Als die Südländer sich letztlich doch für die Alliierten aussprachen, bedeutete das für die Deutschen Treulosigkeit, für Italien Entscheidungsfreiheit und Gebietszusagen – vielleicht ja zur Ausdehnung des Tomatenanbaus?

Nimmt man die Tomaten von den Augen, wird eines klar: Ob grün oder rot, ob real oder fiktiv, ob treulos oder zuverlässig – die Tomate ist zum Symbol für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit geworden.


Fußnote
Vom Liebesapfel zum Wasserball
„Paradeiser“ nennen die Österreicher liebevoll die Tomate mit dem botanischen Namen Lycopersicon esculentum. Das in Mexiko heimische Nachtschattengewächs, das die Spanier im 16. Jahrhundert nach Europa brachten, wurde zunächst meist unter der Bezeichnung „Liebesapfel“ als Arznei- und Zierpflanze gehalten. Man nahm an, dass die Tomate giftig sei. Heute steht sie in der Weltproduktion an erster Stelle des Gemüseanbaus. Die früher aromatische Beere ist jedoch mittlerweile zur geschmacklosen, wässrigen „Anti-Matsch-Tomate“, einem langweiligen, transgenen Massenprodukt, mutiert.

 

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